Neue Studie verbindet die Energiefreisetzung in Erdbeben mit der Festigkeit des Bodens tief unter unseren Füßen
Warum setzen manche Erdbeben mehr Energie frei als andere? Und was verrät das über die Festigkeit der Gesteine tief unter der Erdoberfläche?
Wenn tektonische Platten langsam aneinander vorbeigleiten, baut sich entlang der Verwerfungen Spannung auf. Wenn diese Spannung die maximale Belastbarkeit einer Verwerfung, also die Festigkeit, überschreitet, wird die Spannung schließlich in Form eines Erdbebens freigesetzt. Die Höhe der freigesetzten Spannung kann gemessen werden, aber es ist schwierig, die Gesamtmenge der Spannung zu messen, die sich vor einem Erdbeben aufbaut. Es erscheint intuitiv sinnvoll, dass stärkere Gesteine mehr Spannung aufbauen und freisetzen sollten, aber diese Annahme konnte bisher nicht bestätigt werden.
Neue Erkenntnisse aus einer Studie von Bocchini et al. zeigen nun, dass je stärker oder tiefer eine Verwerfung im Gestein der Erdkruste ist, desto mehr Spannung wird bei einem Erdbeben freigesetzt.
Die Studie wurde in der der Onlinefachzeitschrift Communications Earth & Environment veröffentlicht.
Ein messbarer Indikator für die Festigkeit der Erdkruste
Diese Erkenntnisse haben weitreichende Bedeutung. Sie zeigen, dass seismologische Daten genutzt werden können, um zu bestimmen, wie fest Gesteine an einem bestimmten Ort im Durchschnitt (im relativen Sinne) sind, d. h. wie viel Belastung sie aushalten können, bevor sie brechen. Daraus lässt sich ableiten, dass es möglich ist, indirekt die durchschnittliche relative Festigkeit der Erdkruste und ihre räumlichen und zeitlichen Veränderungen zu bestimmen, was sonst nur schwer möglich ist.
„Unsere Ergebnisse liefern eine physikalische Grundlage für den Zusammenhang zwischen der Freisetzung von Spannungen während Erdbeben und der Stärke der Verwerfungen“, erklärt Gian Maria Bocchini vom Institut für Geowissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. „Das bedeutet, dass wir anhand seismologischer Daten Rückschlüsse auf die relative Festigkeit der Erdkruste ziehen können. Das war bisher nur schwer nachzuweisen.“
Untersuchungen in Nordostjapan
Für ihre Analyse wertete das Forschungsteam Erdbebendaten aus dem Nordosten Japans in den elf Jahren nach dem Tohoku-Oki-Erdbeben der Stärke 9,0 im Jahr 2011 aus. Die Region ist eines der seismisch aktivsten Gebiete der Welt und wird durch ein dichtes Netz hochwertiger seismischer Bohrlochstationen überwacht.
Die Auswertung ergab ein klares Muster: Je tiefer ein Erdbeben auftritt, desto größer ist der Spannungsabfall und desto mehr Energie wird freigesetzt. Um diesen Trend zu erklären, vergleichen die Forscher*innen Ergebnisse aus numerischen Finite-Elemente-Modellen, die Kräfte in der Erdkruste simulieren, mit Spannungsabfallmessungen aus seismologischen Daten. Der Vergleich zeigt, dass der Spannungsabfall mit der maximalen Scherspannung zunimmt, d. h. der größten seitlichen Kraft, der Verwerfungen standhalten können, bevor sie brechen.
Bedeutung für die Erdbebenforschung
Die Studie liefert eine physikalische Erklärung für den Zusammenhang zwischen Spannungsabfall und Tiefe eines Erdbebens und hilft, scheinbar widersprüchliche Ergebnisse aus früheren Forschungen zu verstehen. Sie zeigt, dass stärkere oder tiefere Verwerfungen höheren Spannungen standhalten können und daher größere Spannungsabfälle aufweisen. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die relative Verwerfungsfestigkeit ziehen, einen Wert, der schwer zu messen ist.
„Interessanterweise haben sich die Spannungsabfallwerte in all den Jahren nach dem Tohoku-Oki-Erdbeben kaum verändert“, merkt Armin Dielforder von der Universität Greifswald an. „Die Festigkeit von Verwerfungen scheint über die Zeit hinweg konstant zu sein, was zum Verständnis von Nachbebensequenzen beitragen könnte.“
Langfristig liefert diese Forschung eine neue Grundlage für ein besseres Verständnis von Erdbebenprozessen und eine genauere Modellierung der mechanischen Eigenschaften der Erdkruste.
Beteiligte Institutionen:
Ruhr-Universität Bochum, Institut für Geowissenschaften
Universität Greifswald, Institut für Geographie und Geologie
U.S. Geological Survey, Earthquake Science Center, Pasadena (USA)
Originalveröffentlichung:
Bocchini, G. M., Dielforder, A., Kemna, K. B., Harrington, R. M., & Cochran, E. S.: Earthquake stress-drop values delineate spatial variations in maximum shear stress in the Japanese forearc lithosphere, in: Communications Earth & Environment, 2025, https://doi.org/10.1038/s43247-025-02877-y
Abbildungserläuterung (Schematische Zusammenfassung der Studie von Bocchini et al. (2025))
Die Studie analysiert den Zusammenhang zwischen Erdbeben-Spannungsabfall, Tiefe und Scherspannung im Vorbogen nordöstlich von Japan. Die Werte für den Spannungsabfall (Δσ) wurden aus Tausenden von Nachbeben des Tohoku-Oki-Erdbebens der Stärke Mw 9,0 im Jahr 2011 abgeleitet und zeigen einen systematischen Anstieg mit zunehmender Tiefe. Finite-Elemente-Modelle der Kraftbilanz schätzen die absolute Scherspannung in der Lithosphäre des Vorbogens. Der Vergleich des beobachteten Spannungsabfalls mit der modellierten Scherspannung zeigt eine positive Korrelation und liefert einen quantitativen Beweis dafür, dass der Spannungsabfall bei Erdbeben mit der Bruchfestigkeit, d. h. der maximalen Scherspannung beim Versagen, skaliert. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Spannungsabfall als seismologischer Indikator für die relative Festigkeit der Kruste in der spröden Lithosphäre dienen kann.